Das von der Bundesregierung mit dem Entwurf für ein Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts initiierte Reformvorhaben ist nach Ansicht von Ulrich Scheibner von der Virtuellen Denkwerkstatt (VDW) weniger als halbherzig: „Es ist die politische Pelzwäsche eines Bären, der dabei nicht nass werden soll“, betont er im Interview mit den kobinet-nachrichten. Vor allem kritisiert er die Reformabstinenz bezüglich der „Werkstätten“ für behinderte Menschen als „politisch falsche, zeitlich überholte, ethisch rückständige und menschenrechtlich fragwürdige Fortsetzung der alten Absonderungspolitik.“ Im Interview mit kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul berichtet Ulrich Scheibner auch über aktuelle Rechercheergebnisse, wonach 12 untersuchte westdeutsche „Werkstätten“-Träger 2020 durchschnittlich 7 Millionen Euro Gewinn ausgewiesen hatten, die zehn ostdeutschen sogar durchschnittlich 11 Millionen Euro Gewinn.
kobinet-nachrichten: Derzeit beschäftigen sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit einem Entwurf für ein Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes. Die Virtuelle Denkwerkstatt (VDW) hat dazu auch eine Stellungnahme im Anhörungsverfahren zum Referentenentwurf abgegeben. Was halten Sie von dem Gesetzentwurf?
Ulrich Scheibner: Der Gesetzentwurf trägt einen hoffnungsvollen Namen. Er macht aber nur einen sehr kleinen Schritt in Richtung Inklusion, einen sehr, sehr kleinen. Unternehmen, die gar keinen Pflichtplatz besetzen, sollen zukünftig 720 Euro an Ausgleichsabgabe bezahlen statt bisher 360 Euro im Monat. Dieser Betrag ist weiterhin steuerlich absetzbar. Dazu hatten die kobinet-nachrichten schon im Juni 2022 getitelt: „Freikaufwahnsinn endlich beenden …“
kobinet-nachrichten: Wird die Einführung einer vierten Stufe für die beschäftigungspflichtigen Unternehmen, die keinen einzigen behinderten Menschen beschäftigen, aus Ihrer Sicht einen Unterschied machen?
Ulrich Scheibner: Wir Wählenden haben ein viel zu kurzes Gedächtnis, und der Bundestag ist ein Entwicklungsland in Sachen Inklusion geblieben: Die SPD hatte vor elf Jahren gefordert, die dritte Stufe (!) der Ausgleichsabgabe auf 750 Euro zu erhöhen (BTD 17/9931, 12.06.2012, S. 4). Da sollte eine neue vierte Stufe bei mindestens 1.000 Euro liegen. Dieses Reformvorhaben ist weniger als halbherzig: Es ist die politische Pelzwäsche eines Bären, der dabei nicht nass werden soll.
kobinet-nachrichten: Was halten Sie von der im Gesetzentwurf geplanten Aufhebung des Ordnungswidrigkeitstatbestandes im Falle der Nichtbeschäftigung behinderter Menschen, also die Aufhebung der Möglichkeit, Bußgelder zu erheben?
Ulrich Scheibner: Das Bundesverfassungsgericht hatte 2004 darauf hingewiesen, dass die „Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht […] in Spanien sogar mit Geldstrafen geahndet“ wird (1 BvR 2221/03). Deutschland ist hierbei im europäischen Vergleich kein Inklusionsland. Auf Geldbußen bei Nichterfüllung einer gesetzlichen Norm und einer existentiellen Pflicht zu verzichten, widerspricht dem Gesetz von 2008 zum UN-Übereinkommen von 2006. Denn Nichtbeschäftigung ist rechtswidrig, diskriminierend und menschenrechtlich ein Stein des Anstosses. Das Gesetz zum UN-Übereinkommen fordert das genaue Gegenteil. Dessen Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 27 offenbaren den politischen Anachronismus dieses Reformvorhabens.
kobinet-nachrichten: Das Thema der Beschäftigung in Werkstätten für behinderte Menschen bzw. Alternativen dazu, spielt in dem Gesetzentwurf eine äußerst untergeordnete Rolle. Wie sehen Sie das?
Ulrich Scheibner: Das Stichwort ist schon gefallen: Anachronismus. Die Reformabstinenz in diesem Gesetzentwurf bezüglich der „Werkstätten“ ist die politisch falsche, zeitlich überholte, ethisch rückständige und menschenrechtlich fragwürdige Fortsetzung der alten Absonderungspolitik. Ein Satiriker beschrieb einen solchen Sachverhalt so: „Neue Gesetze für alte Mängel.“
kobinet-nachrichten: Sie haben recherchiert und sich die Bilanzen einer Reihe von Werkstätten für behinderte Menschen für das Jahr 2020 angeschaut. Was haben Sie dabei herausgefunden?
Ulrich Scheibner: Gemeinsam mit einer Gruppe von „Werkstatt“-Fachleuten und Bilanzexperten haben wir aus zehn Bundesländern 22 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Jahresabschlüsse von „Werkstätten“-Trägern untersucht. Das Ergebnis haben wir übrigens anonymisiert den Forschungsinstituten übermittelt, die für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) Vorschläge für ein gerechtes Entgeltsystem in den „Werkstätten“ erarbeiten sollen.
Die untersuchten 12 westdeutschen „Werkstätten“-Träger hatten 2020 durchschnittlich 7 Millionen Euro Gewinn ausgewiesen, die zehn ostdeutschen sogar 11 Millionen Euro Gewinn. Und alle hatten sich 2019 so entschieden gegen eine Erhöhung des Grundbetrages der „Werkstatt“-Löhne gewandt, dass ihnen der Gesetzgeber eine Vierjahresfrist einräumte, um den lächerlich geringen Grundbetrag von 80 Euro 2019 auf 119 Euro 2023 zu erhöhen. Die Gewerkschaft Ver.di fordert für Beschäftigte im öffentlichen Dienst eine Lohnerhöhung um mindestens 500 Euro. Denkt eigentlich niemand an die „Werkstatt“-Beschäftigten?
kobinet-nachrichten: Diese Zahlen sind vor allem deshalb interessant, weil während der Corona-Pandemie die ohnehin geringen Werkstattentgelte in vielen Werkstätten für behinderte Menschen reduziert wurden.
Ulrich Scheibner: Es muss gesagt werden: Unsere Untersuchung der Gewinnsituation der „Werkstätten“-Träger ist nicht repräsentativ. Das kann sie auch gar nicht sein, da die „Werkstätten“ in der Rechtsform eingetragener Vereine ihre Jahresergebnisse gar nicht zu publizieren brauchen. Dieses „Werkstätten“-System ist für einen zeitgemäßen demokratischen und sozialen Rechtsstaat unwürdig und beschämend. Es ist weder politisch noch ethisch zu verantworten, dass Geschäftsführungen von „Werkstatt“-Konzernen zu ihrem Jahresgehalt von mehr als 100.000 Euro noch über 10.000 Euro Tantiemen und sogar einen „Corona-Bonus“ von mehreren tausend Euro erhalten, während die beeinträchtigten Beschäftigten im gleichen Bundesland für durchschnittlich 213 Euro im Monat arbeiten. Eine solche Einkommenshierarchie passt in die Zeit der Monarchie und ihrer Frühindustrialisierung mit den gewaltigen „Anstalten für Blödsinnige“, wie sie im 19. Jahrhundert genannt wurden.
kobinet-nachrichten: Welche Konsequenzen fordern Sie angesichts dieser Zahlen und vor allem auch auf die Werkstätten gerichtet, die ihre Zahlen nicht offenlegen, bzw. als Vereine solche Geschäfte machen?
Ulrich Scheibner: Mit ein paar gutgemeinten Reformen ist es beim deutschen „Werkstätten“-System nicht getan. Ein umfangreiches Reformprogramm ist nötig, das schrittweise mit inklusionsverantwortlichen kleinen Reformen beginnen muss. Dazu liegt schon Vieles vor. Am Anfang muss die Verwirklichung der Gesetze stehen, die den „Werkstatt“-Beschäftigten bislang verweigert werden. Dazu gehört vor allem der Rechtsstatus als Arbeitnehmer / Arbeitnehmerinnen für alle im Arbeitsbereich Tätigen und ihr Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn ohne sozialversicherungsrechtliche Nachteile. Und alle „Werkstätten“-Träger – gleichgültig in welcher Rechtsform – müssen ihre Jahresergebnisse i. S. des § 12 WVOveröffentlichen. Mit der Geheimniskrämerei im „Werkstätten“-System muss Schluss gemacht werden. „Werkstätten“-Träger finanzieren sich aus Steuergeldern. Dafür sind sie der Öffentlichkeit verantwortlich.
Gemeinsam mit der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) hat die Virtuelle Denkwerkstatt (VDW) Vorschläge zur Verbesserung der Entlohnung und Inklusion von Werkstattbeschäftigten gemacht.
Das Interview führte Ottmar Miles-Paul, Kobinet