Das ausführliche Interview von Andrea Grassow, LIGA Selbstvertretung Thüringen e.V. mit
Jörg Markowski, Referent/ Projektleitung vom Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB)
Zur Info: Der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (BeB), der das Projekt macht, vertritt seine rund 600 Mitgliedseinrichtungen in der Bundespolitik.
Ein wesentliches Ziel des BeB ist die Umsetzung der UN-BRK.
„Herr Markowski, neulich war ich auf einer Veranstaltung, wo mir als „Werkzeugkoffer“ eine sehr interessante Fragesammlung vorgestellt wurde, um Mitbestimmung zu erlernen.
Wie entstand die Idee dafür?
Vor dem Projekt haben wir ein großes bundesweites Aktionsplan-Projekt gemacht. Ein wesentliches Ergebnis war die Erkenntnis, wie wichtig Beteiligung ist. Damit sich Teilhabechancen verbessern. Um Beteiligung und Mitbestimmung vor allem von Menschen mit Lernschwierigkeiten, psychischer Beeinträchtigung und hohem Unterstützungsbedarf in den Einrichtungen und den Kommunen zu stärken. Die mentalen, kommunikativen, baulichen und finanziellen Barrieren, die eine gleichberechtigte Teilhabe behindern, müssen bewusst werden, damit wir sie einreißen können.
Das geht nur durch eine starke Mitbestimmung der Selbst- und Interessenvertreter*innen und ihr gelebtes „Nicht ohne uns über uns“.
Mit der Förderung durch die Aktion Mensch Stiftung konnten wir das 5- jährige Projekt gemeinsam mit den Praxisstandorten und Beiräte auf die Beine zu stellen und es verwirklichen. Das Projekt endet im Juni 2021…..
Wer arbeitet mit so einer Fragesammlung?
Die Fragensammlung „Mitbestimmen“ ist für Menschen mit Behinderung, Beiräte und Mitarbeitende in Organisationen der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie und in Kommunen.
Sie ist für alle, die Mitbestimmung für alle weiterentwickeln und stärken wollen. Auch die gleichberechtigte Mitbestimmung von Mitbürger*innen mit Lernschwierigkeiten, psychischer Beeinträchtigung und hohem Unterstützungsbedarf.
Gibt es diese Fragesammlung nur online?
Um möglichst viele Menschen zu erreichen gibt es die Fragensammlung als Buch, als barrierefreie PDF und als Online-Version. Die Online-Version bietet die Möglichkeit, den eigenen Fragenkatalog zusammenzustellen und die Fragen auch gleich zu beantworten.
Die Fragensammlung und alle dazugehörigen Materialien – die zusätzlichen Informationen, den Werkzeugkoffer und demnächst auch die Praxisbeispiele – gibt es in Alltagssprache und Leichter Sprache und das allermeiste auch in barrierefreien Formaten für Menschen mit Sehbehinderung. Der Werkzeugkoffer ist kostenfrei.
Wo kann ich so einen Werkzeugkoffer einsetzen?
In erster Linie, das habe ich bereits gesagt, zielt der Werkzeugkoffer auf die Stärkung der Mitbestimmung in Organisationen der Eingliederungshilfe und in der Kommune und gleichzeitig auf die gleichberechtigte Beteiligung von Menschen mit Lernschwierigkeiten, psychischer Beeinträchtigung und hohem Unterstützungsbedarf.
Wir freuen uns natürlich, wenn noch anderen vom Werkzeugkoffer profitieren, z.B. die Landesbeiräte, die Ligen der Selbst- und Interessenvertretungen, aber auch die Mitgliederversammlung im Sportverein, die Programmplanung von der Volkshochschule, Bürgerinitiativen, politischen Parteien, die Ausbildungsinstitute für Assistenzkräfte und Peer-Unterstützer*innen und und und.
Überall da, wo gemeinsam etwas bewegt wird oder bewegt werden will, kann überprüft werden, ob Teile des Werkzeugkoffers hilfreich sind.
Was ist in dem „Werkzeugkoffer“?
Der Werkzeugkoffer Mitbestimmen: Das ist vor allem die „Fragensammlung Mitbestimmen!“.
In der Fragensammlung stehen 334 Fragen zur Haltung, zu Strukturen und zum Alltag von Mitbestimmung in Organisationen der Eingliederungshilfe, also Wohn-, Arbeits-, und Freizeitangeboten, und in der Stadt.
Warum eigentlich eine Fragesammlung?
„Wer fragt, möchte Antworten haben. Antworten finden heißt nachdenken.
‚Das war schon immer so‘ gilt dann nicht mehr‘.“
Die Fragen sind ein Werkzeug, um das Bestehende zu befragen, Gewohnheiten zu überprüfen und gemeinsam blinde Flecken zu entdecken. Die Fragen helfen gemeinsam zu überlegen, was gut ist bei der Mitbestimmung und wo es hakt. Und Ideen zu entwickeln, was wie verändert werden kann. Dabei hilft die Vielfalt der Fragen.
Woher kommen diese Fragen eigentlich?
Sie wurden von vielen sehr engagierten Menschen aus ganz unterschiedlichen Lebenszusammenhängen gesammelt: Von Interessenvertreter*innen aus Beiräten, von Assistent*innen, Einrichtungsleitungen und Mitarbeiter*innen aus der Stadtverwaltung, von Wissenschaftler*innen, Verbandsmitarbeiter*innen und Selbstvertreter*innen der Menschen mit Lernschwierigkeiten und psychischer Beeinträchtigung. Gerade diese Vielfalt macht die Sammlung so interessant.
Und welche Themen werden in Ihrer Fragesammlung angesprochen?
In der Fragensammlung gibt es ein Kapitel zu Barrieren der Mitbestimmung. Und Strategien sie abzubauen beziehungsweise möglichst gar nicht zu bauen. Erläutert wird ein Stufenmodell, das dabei hilft gemeinsam zu überlegen, in welcher Form die aktuelle und gewünschte Mitbestimmung stattfindet und stattfinden soll. Und es gibt Hinweise zu rechtlichen Bedingungen für Mitbestimmung, die wir in den zwischenzeitlich online verfügbaren „Zusätzlichen Informationen“ angereichert haben auch um viele Links, u.a. zu Selbstvertretungsorganisationen.
Ich habe gesehen, dass Sie sogar Filme anbieten?
Ja, ebenfalls online finden Sie die drei Kurzfilme zur Fragensammlung und den „Werkzeugkoffer“ im engeren Sinn. Dieser hilft dabei mit der Fragensammlung zu arbeiten, Veränderungen zu planen, den eigenen Plan für Mitbestimmung zu machen und umzusetzen.
Damit dies gut gelingt gibt es Hinweise für konsensorientierte Moderation, zum Umgang mit auch schwierigen Gesprächspartner*innen und gute Argumente für Mitbestimmung.
Gibt es da auch praktische Beispiele, wie ich gut mitbestimmen kann?
Gerade arbeiten wir an den Praxisbeispielen, die ab Mai online gestellt werden. Die 35 Praxisbeispiele zeigen, wo und wie sich Mitbestimmung an verschiedenen Orten entwickelt. Zu den Praxisbeispielen gibt es jeweils Ansprechpartner*innen, die man bei Rückfragen kontakten kann und es gibt demnächst auch die Netzwerkkarte Mitbestimmen, in denen sich engagierte Mitstreiter*innen für Mitbestimmung eintragen, wenn sie Ihre Erfahrungen und Ideen mit anderen teilen wollen.
Gabs schon positive Beispiele in der Praxis?
Vielen, die sich vorgenommen hatten, mit der Fragensammlung zu arbeiten, hat Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das ist bedauerlich und zugleich leider nicht überraschend. Corona als Brennglas hat ja vor allem in der ersten Welle gezeigt wie wenig krisenfest an vielen Orten Mitbestimmungsmöglichkeiten und -strukturen sind. Corona zeigt auch, welche Nachholbedarfe es gibt und wie wichtig die konsequente Stärkung von Partizipation ist, damit die vielfältigen Lebenssituationen von Mitbürger*innen in Planungs- und Entscheidungsprozessen künftig konsequent und UN-BRK-konform berücksichtigt werden.
Wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung?
Ein Entwicklungsschub ist notwendig, sowohl bezogen auf Haltungen und Kompetenzen, aber auch im Hinblick auf die Sicherstellung von Verbindlichkeit durch die Weiterentwicklung der Strukturen inklusiv ihrer Finanzierung. Wir hoffen natürlich sehr, dass sich die Situation jetzt bald so entspannt, dass wieder Zeit, Sicherheit und Energie da sind, die Arbeit mit der Fragensammlung zu beginnen oder auch fortzusetzen, weil sie eben genau hier ansetzt: an den Haltungen, an den Strukturen und am Alltag.
Sie haben dazu auch Schulungen durchgeführt?
Wenn Sie mich nach positiven Beispielen in der Praxis fragen, fallen mir zuallererst die drei zweitägigen Schulungen zur Fragensammlung ein, die wir Corona-bedingt online durchgeführt haben. Die Schulungen haben einen riesen Spaß gemacht und sie haben gezeigt, dass die Fragensammlung funktioniert. Über die Fragen sind die Teilnehmer*innen miteinander ins Gespräch gekommen, haben sich zu Erfahrungen ausgetauscht, haben sich gegenseitig Tipps gegeben und damit begonnen, jeweils ihren Plan für Mitbestimmung zu formulieren. Da war Energie, Kraft, Engagement und viel Optimismus im Äther und ich bin optimistisch, dass sich dies aus den Schulungen getragen hat und die Teilnehmer* weiter an ihrem Mitbestimmungsplan und ihren Aktionen für eine stärkere Mitbestimmung arbeiten.
Gibt es schon konkrete Ergebnisse?
Viele positive Entwicklungen gab es im Rahmen des Projekts in den Projektstandorten in den Organisationen der Eingliederungshilfe in Stuttgart, Düsseldorf und Wolmirstedt und im Teilhabemanagement im Saalekreis. Beschriebene Veränderungen sind zum Beispiel die Verbesserung der Sitzungen, die sehr viel konsequentere gemeinsame Planung von Freizeitangeboten, Standards für Mitbestimmung bei der Auswahl neuer Mitbewohner*innen und neuer Assistent*innen und entstehende Kooperationen zwischen den Beiräten in den Organisationen und der Kommune. Bei unseren vier digitalen Vernetzungstagungen haben die Praxisstandorte selbst von ihren Veränderungen berichtet. Die Beiträge werden zeitnah auf unserer Website eingestellt – dann können Sie sich selbst einen Eindruck verschaffen.
Wie groß ist das Interesse eigentlich?
Die Vernetzungstagungen haben auch gezeigt, dass das Interesse am Thema überwältigend ist. Wir haben mit diesen Tagungen insgesamt 485 Teilnehmer*innen aus 163 Organisationen erreicht.
Ein positives Beispiel ist für mich das Projekt selbst. Es ist konsequent partizipativ angelegt und verwirklicht. Alle Beteiligten sind mit den bisherigen Ergebnissen sehr zufrieden.
Das Projekt zeigt: Partizipation braucht gute Rahmenbedingungen, sie braucht Ressourcen und setzt Ressourcen frei, kostet Zeit und schenkt sie an anderer Stelle, ist manchmal anstrengend, macht meistens großen Spaß und zeitigt wirklich gute Ergebnisse
Wenn ich mich dafür interessiere, wo erhalte ich mehr Infos
Mehr Infos zum Projekt und die Projektergebnisse – die Fragensammlung, die entstandenen Materialien und bald auch die Beiträge von den Tagungen, die Praxisbeispiele und die Vernetzungslandkarte – finden Sie auf der Website vom Projekt.
Bei Fragen können Sie sich auch an mich wenden, am besten mit einer Mail an markowski@beb-ev.de
Vielen Dank für das Interview!
Ich bedanke mich für die Gelegenheit, hier so ausführlich berichten zu können und wünsche Ihnen viel Spaß mit der Fragensammlung, falls Sie bei Ihnen zum Einsatz kommt und Erfolg bei Ihren gemeinsamen Aktionen!